Goldfall – Kapitel 11: Von Göttern und Menschen

„Wohl an,“ sagte Learto mit vollem Mund, während er mit Rübenmus gefüllte Teigtaschen verspeiste, „Ihr wollt also etwas über Lyreya erfahren. Was kann ich Euch erzählen…“

Er schluckte einen großen Bissen und begann, Struggel über das Wesen der Göttin aufzuklären.

Lyreya, so viel wusste Struggel bereits, war die Göttin der Spiele, der Freude, der Künste, der Liebe und der Freundschaft. Beim Volk war sie äußerst beliebt, da sie den Leuten keine großen Entbehrungen auferlegte, sondern, im Gegenteil, ihnen Muße, Feste und Vergnügungen gönnte. Sie war Schirmherrin des fahrenden Volkes, der Barden und aller Liebenden. Ihre Priester waren durchwegs attraktive Frauen, manchmal auch Männer, durchwegs aber kunstfertig und von fröhlicher Gesinnung. Manche reisten durch das Land, die meisten aber blieben in den Tempeln, um dort Unterricht in Gesang, im Spielen eines Instruments, in Malerei oder Bildhauerei zu erteilen. Das und der Verkauf von Kunstwerken an Adlige sei für die Tempel ein einträgliches Geschäft. Was man sonst noch gerüchteweise von Lyreyapriesterinnen lernen konnte, ließ Learto unerwähnt.

Struggel schrieb alles präzise in sein Büchlein, für den Fall, dass er es vergessen würde.

Learto verschlang eine gelbe gekochte Wurzel im Ganzen, bevor er sich daran versuchte, Lyreyas Wesen zu charakterisieren. „Hm, im Grunde genommen ist sie eher anspruchslos. Sie ist nicht sehr kompliziert, wisst Ihr, vielleicht könnte man sie auch ein wenig blauäugig nennen.“

„Ihr dürft gerne genauer werden.“

„Was erwartet Ihr? Eine Göttin lässt sich nicht beschreiben wie die Nachbarstochter!“

Dennoch verdichtete sich Leartos Schilderung allmählich zu einem schlüssigen Bild. Lyreya schien demnach keine großen Anforderungen an die Menschen zu stellen, gleichwohl aber um so extremer zu reagieren, wenn sie sich hintergangen fühlte. Sie war eine sehr menschliche Göttin, spontan, geleitet von Gefühlen und beherrscht von Launen, aber das wunderte Struggel nicht, denn alle Menschengötter waren irgendwie menschlich. Das machte sie für ihn ja auch so unglaubwürdig!

Als Learto sein Wissen über die Göttin vollständig zum Besten gegeben hatte, machte sich Struggel daran, die neu gewonnenen Informationen zu verknüpfen: „Lasst mich zusammenfassen: Alles dreht sich um eine Göttin, die den Menschen jedes Jahr einen spektakulären Wasserfall beschert, aus dem angeblich Gold fließt. Nur dieses Jahr bleibt das Wunder aus. Anstatt dessen ist die Göttin enttäuscht und bringt Schmerz und Übelkeit über die in ihren Augen unwürdigen Schaulustigen.“

Learto schmatzte zustimmend.

„Seltsam ist aber, dass all dies geschah, nachdem ich eine Probe vom ‚heiligen‘ Felsen nahm. Glaubt Ihr an einen Zufall?“

„Ihr etwa nicht?“

„Ich könnte mir vorstellen, dass jemand die Gelegenheit ergriff, ein Verbrechen zu begehen, wohl ahnend, dass die Ereignisse auf mich deuten würden.“

„Aber wie sollen wir diesen Kerl finden?“

„Das wird gewiss schwer. Vielleicht sollten wir herausfinden, was eigentlich das Verbrechen ist, das begangen wurde, bevor wir auf die Suche nach dem Täter gehen!“

„Aber es ist doch nichts Außergewöhnliches geschehen! Wir sind hier im Paradies, Struggel, umgeben von Girlanden, schönen Frauen und köstlichem Essen! Nichts und niemand trübt die Idylle – von Euch abgesehen, natürlich.“

„Scherzt nur, Meister Schmied. Um Euren Kopf geht es ja nicht…“

Learto hörte sich noch acht weitere Theorien an, bevor er sich für ein Mittagsschläfchen auf das gemeinsame Zimmer im ersten Stock zurück zog. Struggel hingegen war voller Tatendrang und zappelte sogleich nach draußen, auf der Suche nach verdächtig aussehenden Menschen und Dingen, die nicht so waren, wie sie seiner Meinung nach sein sollten.

Als er am Abend erschöpft zurückkehrte, berichtete er aufgeregt, wie er im Dorf um Haaresbreite dem Bärtigen entkommen war. Danach erzählte er, mit Hilfe seines Büchleins, was er über Kardia herausgefunden hatte: dass sie in ihrer Jugend alleine nach Goldfall gekommen sei und lange als Tempeldienerin gearbeitet habe. Später habe sie den Zimmermann geheiratet, dieser aber sei an bösem Husten verstorben, bevor sie ihm Kinder schenken konnte. Immerhin habe er ihr seine Werkstätte hinterlassen, die sie später veräußerte, um selbst einen Instrumentenladen zu eröffnen.

„Ein Instrumentenladen… klingt äußerst verdächtig!“, spottete Learto und kippte einen Becher Wein.

Struggel blätterte ungerührt in seinem Büchlein. „Ach ja, ich sprach auch den hiesigen Steinmetz auf den heiligen Felsen an, worauf er mir erzählte, dass vor drei Generationen angedacht war, den Tempel in das Innere des Berges zu verlegen, weil man dort dem göttlichen Gold näher sein wollte. Der Plan scheiterte aber am Widerstand des Dorfrates. Und vor hundert Jahren kam ein Barde namens Farinaldo nach Goldfall, auf der Suche nach der perfekten Melodie.“

„Und?“

„Das ist alles.“

„Das ist nicht viel.“

„Nicht viel? Das ist mehr, als Ihr zu Stande gebracht habt! Oder habt Ihr des Rätsels Lösung inzwischen aus Euch herausgeschnarcht?“

Mit einigen Bechern Wein und freundschaftlichem Zank ging ein weiterer Tag zu Ende, und noch immer hatte Struggel keinerlei Anhaltspunkt. Aus unerfindlichen Gründen konnte er auch seinen Verdacht gegen die Harfenspielerin nicht begraben. Im Gegenteil – er verfärbte jeden seiner Gedanken und hielt ihn auch davon ab, endlich Schlaf zu finden.

Es dauerte lange, ehe Struggel die innere Ruhe fand, die der fortgeschrittenen Stunde angemessen war. Trübsinnig starrte er auf die Laterne, deren Konturen er sanft über sich baumeln sah, und merkte gar nicht, wie er schließlich einschlummerte.

Während der Nacht zog heftiger Wind auf. Er pfiff durch die Ritzen in der Außenfassade und drückte gegen die ächzenden Fensterläden. Struggel erwachte prompt und war überrascht zu sehen, wie Schneeflocken durch die Spalten drangen.

Die Laterne baumelte verdächtig über ihm, und der Trosh ging daran, das Fenster mit einem Tuch abzudichten, bevor der Wind es aufstieß oder, noch schlimmer, die Laterne vom Haken wehte. Er schlurfte zum Fenster, da vernahm er im an- und abschwellenden Gesang des Windes eine Melodie: eine kurze Phrase, bestehend aus sechs Tönen, gespielt auf einer Harfe; wie jener, an der Kardia aufgetreten war.

Struggel spreizte die Ohren ab. Da war noch etwas: ein dumpfes Grollen, als ob Stein auf Stein rieb. Nach wenigen Sekunden verebbte auch dieses Geräusch, und alles, was blieb, war das Heulen des Windes.

Die Augen des Trosh wanderten hin und her, seine Gehirnwindungen arbeiteten auf Hochtouren. Anfallartig stürzte er zu seinem Notizbuch, zeichnete Zickzacklinien und versuchte dabei die Töne, die er gerade gehört hatte, nachzusingen. Ein kratziges Wimmern war das Ergebnis, und Learto drehte sich im Schlaf brummelnd zur Wand. Struggel konzentrierte sich darauf, die sechstönige Phrase nachzuvollziehen und mit Strichen, die je nach Tonhöhe hinauf oder hinunter zeigten, zu Papier zu bringen.

Erst als er meinte, dies bewältigt zu haben, gelang es ihm, dauerhaft Schlaf zu finden.

Dies war eines der 20 Kapitel der Fantasy-Geschichte Goldfall, die im Rahmen dieses Blogs veröffentlicht wird. Lies morgen im nächsten Blogpost, wie die Geschichte weitergeht!

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