Goldfall – Kapitel 12: Goldfall-Promenade

Learto traute seinen Augen nicht, als er am nächsten Morgen die Fensterläden aufschlug und überall Schnee lag. Wie Zuckerguss verschönerte er die Schrägdächer und umspielte im leisen Wind die Brunnen, Tränken und Hausmauern des Dorfes. Die Sonne hatte sich hinter dicke Wolken zurück gezogen und Goldfall dem verspäteten Abschiedsgruß des Winters überlassen.

In der Gaststube erklärte der Wirt, dass so etwas keineswegs ungewöhnlich war. Hier im Gebirge kam und ging der Winter, wie es ihm beliebte. Er riet seinen beiden Gästen, die Goldfall-Promenade zu besteigen und sich das Dorf vom Felsen aus anzusehen. Er pries den Ausblick als so unvergleichlich an, dass Struggel, kaum hatten sie etwas Brot und Käse gegessen, zum Aufbruch drängte.

Die Goldfall-Promenade begann ungefähr dort, wo sie das Plateau erstmals betreten hatten, allerdings wand sie sich abseits des Weges, stetig ansteigend, in den Felsen hinein. Sie war gesichert durch Pflöcke, die ins Gestein getrieben und durch Seile verbunden waren. Learto und Struggel folgten ihr bis zu einer scharfen Innenkurve, an der ein Teil des Felsvorsprungs weggebrochen war. Für Learto war es ein kleiner Schritt, für den Trosh ein kleiner Sprung. Dahinter eröffnete sich ihnen ein wahrhaft traumhafter Blick auf das verschneite Dorf, und direkt unter ihnen strömte unaufhörlich Wasser aus der Felswand.

Learto sog den wunderbaren Ausblick ein und lächelte zufrieden.

Struggel blickte verständnislos zu ihm hoch und klammerte sich krampfhaft an das Seil, denn sobald er nach unten blickte, wurde ihm schwindlig. Überrascht stellte der Schmied fest, dass sein Gefährte an Höhenangst litt. Der stolze Trosh verneinte das, doch es war offensichtlich, wie er sich verkrampfte, kaum dass sein Blick auf das Plateau richtete. Learto schlug vor, dass sie sich lieber setzten, und Struggel leistete dem nur allzu willig Folge. Bei dieser Gelegenheit erzählte er ihm von seinen nächtlichen Erkenntnissen und den Schlussfolgerungen, die er daraus zog.

„Schon wahr,“ sagte Learto am Ende, „es ist seltsam, mitten in der Nacht Harfe zu spielen, aber immerhin ist die Frau eine Instrumentenbauerin. Vielleicht hat sie ihre Saiten gestimmt.“

„Gerade wenn ein Schneesturm über das Dorf hinweg fegt?“

„Nun, vielleicht übte sie einfach nur?“

„Nachdem ihr großer Auftritt bereits vorüber war?“

„Möglicherweise schrieb sie ein Lied!“

„Dann allerdings kam sie über die ersten sechs Töne nicht hinaus.“

Learto strich sich über den blonden Dreitagebart, stand auf und spähte über den Abgrund. Er wollte wissen, ob die Entfernung zwischen der Taverne und Kardias Haus es überhaupt ermöglichte, dass Struggel ihr Harfenspiel gehört hatte und nicht etwa einer Täuschung unterlegen war. Kritisch betrachtete er die halbkreisförmig angeordneten Häuser am Hauptplatz und murmelte: „Mal sehen… Kardias Haus scheint das hier ganz links zu sein, direkt an der Felswand gelegen. Ganz rechts, ebenfalls an der Felswand, liegt Gorwins Haus, das bedeutet, dass das hier unsere Taverne sein muss. Unser Fenster zeigt nach, ähm, Norden, und Kardias Haus hat Fenster nach Süden. Tja…“, schloss er etwas lauter, „schon möglich, dass Ihr sie spielen habt hören!“

Struggel sah ihn merkwürdig an.

„Was?“

„Ihr müsst mir unbedingt helfen, Meister Schmied. Ich weiß, dass die Harfenspielerin etwas mit all dem zu tun hat. Ich weiß es einfach! Aber ich brauche Eure Hilfe. Ihr seid ein Mensch. Die Leute da unten vertrauen Euch. Euch öffnet man Türen, mir werden sie vor der Nase zugeschlagen.“

„Da habt Ihr wohl Recht. Aber ich glaube nicht, dass es daran liegt, dass Ihr kein Mensch seid. Ihr solltet vielleicht…“

Struggel blickte zu Boden und ließ die Beine baumeln, während Learto vergeblich versuchte, Struggels manchesmal unglückliche Art in wohlgefällige Worte zu gießen. Der Trosh schien aber nichts davon wahrzunehmen, er sprang mitten im Satz auf und blies zum Abstieg.

„Wohin wollt Ihr so plötzlich?“

„In die Höhle des Drachen.“ Er wandte sich um und bedeutete Learto ihm zu folgen. „Zur Harfenspielerin, Meister Schmied, zur Harfenspielerin!“

Als sie die Promenade auf der anderen Seite wieder verließen, musste es Mittag sein. Eine gute Zeit, wie Struggel meinte, Kardia in ihrem Haus anzutreffen.

Der Schmied wurde kurzerhand dazu bestimmt, das Gespräch zu führen, hatte aber keine Ahnung, was er sagen sollte. Struggel forderte ihn auf, einfach wie immer anständig und nett zu sein und sie in ein Gespräch zu verwickeln.

Bevor er Einwände erheben konnte, hatte Struggel bereits an Kardias Tür geklopft und sich hinter die Ecke zurückgezogen. Mit einem Glubschauge beobachtete er den Schmied, der gerade noch rechtzeitig ein Sonntagslächeln aufsetzte, ehe sich von innen Schritte näherten und die Tür aufschwang.

Kardia war eine schlanke, hochgewachsene Dame. Ihr ergrautes Haar trug sie in einer vornehmen Steckfrisur. Ihr Gesicht wies tiefe Falten auf, ihre Lippen waren schmal und ihre Hände, mit denen sie die Tür nach innen zog, übersät mit Altersflecken. Nur ihre Augen waren jung und von leuchtendem Grün. Sie musste einst eine wahrhaftige Schönheit gewesen sein.

„Wie kann ich helfen?“, sagte sie ohne jeden Hauch von Freundlichkeit.

Learto nahm seine Bundhaube vom Kopf. „Seid gegrüßt, ich bin Learto, Schmied aus Kalusquell und weit gereist, um das Wunder von Goldfall zu sehen. Ich, äh, wollte Euch nur fragen, ähm, ich meine, sagen, dass Euer Harfenspiel … mir sehr gut gefallen hat! Jawohl.“

Hinter der Hausecke hielt sich Struggel die Hand vor den Kopf. „Oh nein, oh nein, was wird denn das!“, schimpfte er leise, ehe er daran ging, einen Blick in Kardias Haus zu werfen. Zu dumm, dass die Fenster so hoch waren. Zu seinem Glück fand er eine Regentonne, erklomm sie keuchend und kletterte von dort aus weiter auf ein Fensterbrett. Kardia musste unverschämt reich sein, denn nirgendswo sonst hatte Struggel bisher Fenster aus Glas gesehen. Die Scheiben waren allerdings beschlagen, daher nahm er seinen Ärmel und wischte ein paar Mal darüber, bevor er die Stirn dagegen lehnte und hinein lugte.

Auf einmal war ein lautes, gurgelndes Geräusch von innen zu hören, und ein dunkles Monster mit gefletschten Zähnen fuhr auf ihn zu. Struggel kreischte auf und fiel rückwärts vom Fensterbrett. Das dunkle Monster schnappte weiter von innen gegen die Scheibe und blickte ihn mit bösen Augen an. Sein Maul war weit aufgerissen und voller spitzer Zähne. Der Trosh kroch schwer atmend rückwärts durch den Matsch, bis er einige Schritt Abstand gewonnen hatte.

Kardia drehte sich ob des Lärms um und rief mit scharfer Stimme: „Reißer! Hierher! Bei Fuß!“

Kurz darauf trottete ein dunkelfelliger, riesiger Hund aus dem Inneren an ihre Seite. Er knurrte Learto feindselig an, folgte aber ansonsten seiner Besitzerin aufs Wort.

„Verzeiht die Störung, Meister Learto“, sagte sie vornehm, „Reißer ist sehr empfindlich, was die Gegenwart… von Fremden betrifft.“

Die Art, wie sie das sagte, gefiel Learto nicht. Er blickte möglichst harmlos und äußerte verlegen, dass er gar nicht gewusst habe, dass sie einen Hund besaß.

„Ich bin eine vermögende, aber allein stehende alte Frau“, gab Kardia mit gespieltem Lächeln zurück, „welche Mittel sollte ich denn sonst haben, mich zur Wehr zu setzen?“

„Gegen wen müsst Ihr Euch denn zur Wehr setzen?“, schaltete sich Struggel ein, der sich Matsch triefend von der Seite näherte.

„Ah, der Trosh!“, sagte Kardia. „Auch Ihr habt einen Ruf, der Euch vorauseilt. Ich hörte gar, dass Ihr den heiligen Felsen geschändet hättet. Ich könnte mir vorstellen, dass Ihr Euch damit viele Feinde gemacht habt.“

Struggels weiche Gesichtszüge verfinsterten sich. „Ihr seid mit schwarzer Magie im Bunde, ich weiß es!“

Oh Gott, rief Learto in Gedanken.

Kardia lachte gekünstelt. „Was soll ich sein? Das ist ja lächerlich. Kleiner Mann,“ sagte sie geringschätzig, „geht nach Hause in Eure Höhle und lasst uns unser friedliches Leben leben. Weder will Euch, noch braucht Euch hier jemand. Und Ihr, Meister, solltet Euch gut überlegen, mit wem Ihr Euch umgebt. Man könnte Euch nach Euren Freunden beurteilen.“

Reißer knurrte laut auf und streckte den Kopf in Struggels Richtung, sodass sie sich gegenseitig in die Augen sahen. Struggel schluckte unmerklich.

Learto bemühte sich indes um Fassung und setzte die Bundhaube wieder auf. „Zu gütig, werte Frau, ich, äh, wir werden uns nun zurück ziehen und wünschen noch einen guten Tag.“

„Guten Tag!“, erwiderte Kardia steif.

Struggel blickte sich noch ein paar Mal um. Kardia blieb lange stehen, und ebenso lange hörte man Reißer knurren. Schließlich fiel ihre Türe zu, und Struggel sah sich in seinem Verdacht bestätigt: „Habt Ihr das gehört, Meister Schmied? Habt Ihr das gehört?? Sie hat es praktisch zugegeben!“

Learto verspürte nur Erleichterung. „Ihr solltet lieber hoffen, Struggel, dass sie nicht diejenige ist, die Ihr sucht. Ich sag‘ Euch, mit der ist nicht gut Kirschen essen. Sie ist reich, hat Einfluss und eine schärfere Zunge als das Weib, dessentwegen ich von zu Hause fort bin.“

Trotz der tiefen Temperaturen musste er sich Schweiß von der Stirn wischen.

Dies war eines der 20 Kapitel der Fantasy-Geschichte Goldfall, die im Rahmen dieses Blogs veröffentlicht wird. Lies morgen im nächsten Blogpost, wie die Geschichte weitergeht!

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