Abstrakt vs. Simulationismus

Wenn man sich moderne Rollenspiele anschaut, könnte man meinen, dass der Trend Richtung Erzählspiel und damit auch in Richtung abstrakte Mechanismen geht. Ist das so? Was heißt in diesem Zusammenhang „abstrakt“, und wie wirkt sich das auf die Spielweise aus? Es folgt ein (für meine Verhältnisse) etwas längerer, assoziativer Gedankengang.

Definition

Mit abstrakt meine ich, dass sich die Regeln weniger auf Handlungen fokussieren, sondern eher auf Wirkungen in der Spielwelt und das Verändern von Gegebenheiten. Das Gegenteil von abstrakt wäre in diesem Sinne nicht konkret, sondern simulationistisch, eben das Simulieren von Handlungen nach dem Prinzip von Aktion und Reaktion. Abstrakt und simulationistisch scheinen sich mir ein wenig wie Zweck und Mittel verhalten. So wie man auch jede Diskussion auf einer feingranularen Ebene führen kann oder aber auf einer teleologischen (= am Zweck orientierten).

Beispiel

  • Beispiel 1 (simulationistisch): Spieler A: „Ich gehe zur Kette der Zugbrücke. Ich setze meinen Speer in das blockierte Gewinde und drücke mit aller Kraft“. SL: „Würfle eine Kraftprobe!“ etc.
  • Beispiel 2 (abstrakt): Spieler B: „Ich möchte die blockierte Zugbrücke herunterlassen. Welche Möglichkeiten sehe ich?“ SL: „Würfle auf Mechanismen!“ etc.

Abstrakt heißt, dass sich der Spieler weniger an den Handlungen seines SCs orientiert, sondern eher an den Zielen. Das hat profunde Auswirkungen auf den Spielstil und den Spielverlauf. Und es fühlt sich auch komplett anders an. Dass in Beispiel 2 aus einer physischen Probe eine Wahrnehmungs/Wissens-Probe wurde, ist nur ein Teil des Abstraktions-Syndroms und steht für eine durchaus repräsentative Verschiebung von Schwerpunkten.

Im obigen Beispiel sieht man außerdem, dass Spieler A sehr tief drinnen ist in den Details. Er sieht die Einzelteile – eine Kette, ein Gewinde, ein Speer – und er sagt uns genau, welche Schritte sein SC zur Lösung des Problems setzt. Für Spieler B steht das nicht im Vordergrund. Er will nicht simulieren, welche Handgriffe zu tun sind, bis die Zugbrücke herunterkommt, sondern er will die Zugbrücke unten haben und sich dann mit einer veränderten Situation beschäftigen.

Der dramaturgische Wert von Abstraktion

Beides ist nicht gut oder schlecht, sondern einfach ein anderer Zugang. Meistens ist der erzählerische Zugang zum Rollenspiel gleichzeitig auch abstrakter, weil ein sich veränderndes Drama nicht aus kleinteiligen Handlungen entsteht, sondern aus einem dynamischen, sich ständig und auch weitreichend verändernden Gefüge. Heißt im Beispiel: So lange sich die Zugbrücke nicht bewegt, wird sich an der Situation im Spiel nicht viel verändern. Sobald die aber mal unten ist, geht die Post ab: neue NSCs, neue taktische Situation etc.

Vom Design-Standpunkt her neigen also nicht ohne Grund viele erzählerische Spiele dazu, manches abstrakt zu lösen. Auch übrigens Destiny Beginner: Die Regeneration von Konstitution und Destiny-Punkten orientiert sich nicht an Nachtruhe und Schläfchen, sondern am Szenenwechsel und somit am Erzählfluss. Oder bei der Großen Gabe lernt der Magier keine Zaubersprüche, sondern beschreibt, was er erreichen möchte und erhält im Erfolgsfall Punkte, mit denen er diesen Effekt erzielen bzw. beschreiben kann.

Symptome von Abstraktion

Ein Symptom von Abstraktion ist, dass Details verloren gehen. Wo man im kleinteiligen Old-School-Spiel noch genau spezifiziert, auf welche Pflastersteine man im Dungeon tritt und welche man auslässt, wird das im abstrakten Erzählspiel bestensfalls zu einer einzelnen Probe, wenn nicht sogar zu einer Situation, in der „Story-Punkte“ ausgegeben werden, um an diesem Teil des Abenteuers gar nicht erst mit Fallen behelligt zu werden.

Auch das ist nicht gut oder schlecht, wiewohl manche Spieler Details brauchen, um sich Ideen zu holen. Ich gehöre z.B. dazu. Ich betrachte mich zwar als erzählerischen Spieler, aber meine Kreativität braucht Fixpunkte, und die hole ich mir aus den Details. Wenn Details niemanden am Tisch interessieren, dann bin ich in einer zu abstrakten Runde gelandet.

Ein weiteres Symptom (ich spreche absichtlich von Symptomen, nicht von Problemen) des abstrakten Spiels ist, dass – ähnlich wie das, was ich hier schon mal angedacht habe – eine gewisse Meta-Ebene dominiert. Und zwar unausweichlich, wie folgendes Beispiel zeigt:

  • Spieler A: „Ich möchte den Gegner einfrieren!“. SL: „Da es in diesem System keinen Zauberspruch Einfrieren gibt, sondern du alles zaubern kannst, musst du mir sagen, was du damit bezwecken willst.“ Spieler A: „Was soll ich schon bezwecken wollen? Ich will ihn einfrieren!“ SL: „Ja, aber was möchtest du bezwecken? Soll er sich nicht bewegen können, dann kannst du ihm Behinderungspunkte beibringen, oder soll er erfrieren, dann sind es Schadenspunkte.“ Spieler A: „Ähm…. beides?“
  • Gleiches System, anderer Spieler B: „Ich möchte den Gegner einfrieren. Ich nutze meine Große Gabe in Magie und decke ihn mit einem Kälteschauer ein!“ SL: „Behinderung oder Schaden?“ Spieler B: „Hm… in diesem Fall ist uns mehr gedient, wenn ihn die Vereisung verlangsamt. Behinderungspunkte also.“

Ob ein Rollenspiel funktioniert, hängt demnach weitestgehend davon ab, ob das Niveau an Abstraktion mit jenem der Spieler harmoniert. Darum habe ich Destiny und Destiny Beginner auch voll kompatibel zu einander gemacht. Wer mit der Großen (abstrakten) Gabe nicht kann, greift einfach zum kleinteiligeren Talente-Crunch von Destiny.

Auswirkungen auf das Design

Unterm Strich heißt das, man muss sich, wenn man ein Rollenspiel baut (und dabei nicht konzeptionell in der Comfort Zone der 80/90er-Jahre stehen bleibt), sehr genau Gedanken über das Abstraktionsniveau machen, welche Auswirkungen es auf das Spiel hat (Kampf z.B. ist eine traditionelle Hochburg des Simulationismus; hier werden abstrakte Mechanismen viel stärker spürbar als etwa bei einer Skill Challenge am Basar) und welche Spieler man damit ansprechen möchte. Mit Anfängern oder Profis hat das Ganze, denke ich, nichts zu tun. Aber mit der Bereitschaft, sich von Details zu lösen und den Fokus von den Mosaiksteinchen weg auf das große Bild zu verschieben.

Und genau das habe ich mir für meinen weiteren Rollenspiel-Weg vorgenommen. Sowohl als Spieler als auch als Spielleiter als auch als Systemdesigner. Mal sehen, wohin mich das führt.

Abstrakt ist langweilig

Der Hochsommer bzw. das Sommerhoch hat mich fest in seinem Griff, aber nicht so fest, dass ich nicht zwischenzeitlich schon wieder Ideen für neue Projekte entwickelt hätte. Eine davon hat mich dazu inspiriert, über abstrakte Ansätze im Kampf nachzudenken, mit der Absicht, das Erzählerische zu fördern und mehr Abwechslung in das übliche Attacke-Parade-Schaden-Schema zu bringen.

Kurioserweise habe ich beim Durchdenken einiger solcher Ansätze festgestellt, dass mit zunehmendem Abstraktionsgrad der Anreiz für inspirierende Aktionen sinkt. Dazu ein Beispiel: Nehmen wir an, 3 SCs kämpfen gegen 1 Oger und 3 um diesen herumschawenzelnde Goblins. Da wäre es doch ziemlich cool, wenn ein SC sagen würde und könnte: „Nachdem ich Goblin 1 mit meiner Axt die Hand abgeschlagen habe, reiße ich seinen stinkenden Leib an mich, nehme ihn in den Würgegriff und verwende ihn gegenüber den Attacken des Ogers als Schutzschild.“

Das sind so Aktionen, die ich üblicherweise im Rollenspiel vermisse, weil sie meistens so kompliziert oder so schwierig sind, dass man lieber gleich drauf verzichtet und den Goblin einfach abmaxelt („ja, also das ist ein Manöver zweiten Grades ,gefolgt von einer waffenlosen Attacke, da hat der Goblin aber noch einen Rettungswurf xy“…). Stark simulationistische Systeme fördern diese Art von kreativem Erzählfluss im Kampf also üblicherweise nicht.

Meine Annahme war, dass ein abstrakter Ansatz nun den gegenteiligen Effekt haben würde, also habe ich mir kurz ein System überlegt, nach dem Gruppen von Kämpfern gegen einander würfeln und so Art „Überlegenheitspunkte“ aufbauen, die sie dann erzählerisch nutzen können, z.B. um Schaden zu verursachen oder eben den Goblin als Schutzschild zu verwenden. Und nun die große Überraschung: Das ließe sich zwar spieltechnisch umsetzen, aber warum sollte der Spieler sich die Mühe machen, das so kreativ in Szene zu setzen?

Worauf ich hinaus möchte ist: Taktik macht erfinderisch. Hohe Abstraktion macht Taktik entbehrlich. Wenn es keinen Rüstschutz gibt und keine Verteidigung, sondern nur einen Vergleichswurf, warum sollte ich dann auf die Idee kommen, einen Goblin als Schutzschild zu verwenden?

Ich vermute daher, dass die Kreativität im Kampf bei ganz geringer Abstraktion = starkem Simulationismus ebenfalls gering ist (weil das Spiel sie einfach nicht zulässt), danach ansteigt und ab einem gewissen Punkt wieder abnimmt. Bei sehr hoher Abstraktion ist sie nämlich wiederum gering, einfach weil der Anreiz fehlt.

Abstrakt ist also nicht gleich erzählerisch. Abstrakt ist sogar, im schlimmsten Fall, langweilig.

Disclaimer: Alle Kreaturenbezeichnungen (insbesondere Goblins) sind rein zufällig und nicht gedacht, irgendeine Spezies zu diskriminieren. Sie sind außerdem geschlechtsneutral zu lesen („Ogrin“, „Goblinin“).