Eine Lanze für die schwülstige Anrede

„Seid Ihr wirr im Kopf, mein Herr?“ So oder ähnlich klingt es in meinen Fantasy-Runden, wenn NSCs und SCs mit einander sprechen. Das geschwollene „Ihr“, „Euch“, „Euer“ ist mir nach fast 30 Jahren Rollenspielen zur zweiten Natur geworden. Aber es fällt nicht allen leicht.

Gerade in meinen jüngeren Runden tendieren einige zum weltlichen „Sie“ und „Ihnen“. Von der stilistischen Diskrepanz ganz abgesehen, finde ich letzteres – subjektiv – geradezu abscheulich. Damit klingt jeder Besuch am Markplatz wie ein Gespräch mit meinem Bankberater („Nehmen Sie sich ruhig Zeit. Gefällt Ihnen, was Sie sehen?“) Und jedes investigative Abenteuer fühlt sich wie ein weitere Spinoff von CSI an: „Wo sind Sie letzte Nacht gewesen? Haben Sie einen Zeugen? Ist das Ihr Dolch?“ Brrr.

Über Geschmack lässt sich ja angeblich nicht streiten, aber ich sehe trotzdem einige Vorteile des schwülstigen „Ihr“, „Euch“, „Euer“:

  1. Es erzeugt einen stärkeren Respekt vor dem Gegenüber. Den erfordert natürlich nicht jede Situation, aber so generell beobachte ich im Rollenspiel immer wieder, dass die SCs dazu tendieren, die NSCs ohnehin nicht als gleichwertig zu betrachten. Eine etwas „steifere“ Anrede kann da zumindest ein wenig ausgleichend wirken.
  2. Im Dialogfluss ergibt sich eine blumigere Sprache. Es kommt zur Verwendung von Begriffen und Metaphern, die in unserer Alltagssprache selten geworden sind. Nun muss Fantasy-Rollenspiel wahrlich nicht zum schwülstigen Shakespeare-Drama werden, aber die mit einer etwas anderen Sprechart verbundene „Otherwordliness“ hilft doch ziemlich beim Eintauchen in die Spielwelt.
  3. Die Unterscheidung zwischen dem, was die Spieler sagen, und dem, was die Charaktere von sich geben, fällt deutlich leichter. (Obgleich ich ohnedies ein Fan davon bin, die Äußerungen der Spieler 1:1 auf die Charaktere zu übertragen, aber das ist eine andere Geschichte).

Letztlich frage ich mich, woher meine starke, fast schon emotionale Bindung an das „Ihr“ und „Euch“ eigentlich herrührt. Zweifellos gibt es Literatur, in der das anders gehandhabt wird, aber in den großen Repräsentanten des Genres – Nibelungensage, Ivanhoe, Excalibur, Die Braut des Prinzen, Der Hofnarr… – herrscht (iirc) konsequent das „Ihr“ und „Euch“ vor. Möglicherweise liegt es daran.

Solltet IHR also noch nicht das IHR verwenden, dann probiert es mal aus und lasst mich wissen, wie es sich für EUCH anfühlt. :)

Zu viel Drama ist nicht gut

Meine Überlegungen von letztens, die grob gesagt darauf hinaus liefen, dass manche Arten von Meta-Ebene der Immersion abträglich sind, haben noch Kreise gezogen. Und zwar habe ich mir überlegt, ob es tatsächlich sein kann, dass die dramatische Seite des Rollenspiels (Story, Handlung, Action, Plot) und die immersive Seite des Rollenspiels (Charakterspiel, kreatives Inszenieren) möglicherweise sogar Antagonisten sind.

Unter diesen Vorzeichen habe ich meinen eigenen Spielleiter-Stil unter die Lupe genommen und in der Tat festgestellt, dass mein Fokus auf Story und Drama nur in den seltensten Fällen von großartigem Charakterspiel seitens der Spieler komplementiert wurde. Und das aus durchaus nachvollziehbaren Gründen:

  • Story braucht Zeit. Zeit, die logischerweise anderswo fehlt. Ist die Story sehr dicht und wird nicht anderswo gespart (z.B. bei Rätseln, Kämpfen usw.), ist nur logisch, dass den Spielern weniger Zeit zum rollenspielerischen Explorieren ihrer Charaktere bleibt.
  • Packendes Drama zieht Fokus auf sich. Im schlimmsten Fall bis zum Railroading, bei dem die Spieler nur noch Statisten sind. Es gibt aber auch den Zuschauer-Effekt, der ebenfalls auf Inaktivität der Spieler hinausläuft, nur nicht vom SL ausgehend, sondern von den Spielern, die sich bewusst oder unbewusst zurücklehnen und das großartige Drama wie eine TV-Serie genießen. In beiden Fällen sinkt die Interaktion und damit das Charakterspiel.
  • Spannung als ein übliches Element packender Abenteuer (Kampf auf Leben und Tod, große epische Schlacht usw.) kann dazu führen, dass die Spieler – trotz aller guten Vorsätze, im Charakter zu bleiben – auf die Meta-Ebene gezwungen werden. Ich kenne das von mir: Ich sehe die Welt so lange aus den Augen meines SC, bis es ihm oder der Gruppe an den Kragen geht. Dann bin ich plötzlich ganz schnell Alexander, der meta-taktisch agiert und ums „Gewinnen“ spielt. Als SL war ich lange Zeit der Ansicht, ein Abenteuer sei nur dann spannend, wenn einer der Charaktere am Ende an der Schwelle des Todes steht. Finalkämpfe in dieser Weise zu dosieren, ist eine meiner größten Begabungen. Rückblickend weiß ich nicht, ob das so gut war. Nicht nur wegen des gerade beschriebenen Effekts, sondern auch weil ich die Spieler damit zu übertriebener Vorsicht erzog und sie möglicherweise aus Selbstschutz keine Bindung zu ihren SCs eingehen wollten.

Vermutlich gibt es noch weitere Argumente, aber eigentlich reichen schon die wenigen, um sich Gedanken darüber zu machen, ob Drama nicht auch etwas ist, das man überdosieren kann. Die Antithese liefern jene meiner Runden, in denen der Fokus auf Charakterspiel liegt. Dort sind gerade die dramatischen Abenteuer eher gefloppt. Zufall? Jedenfalls mal Stoff zum Nachdenken über den eigenen Spielleiterstil.

Meta ist nicht Meta (am Beispiel FATE)

Wer von euch unsere Diskussion im Polyeder Podcast gehört hat, weiß, dass ich nach meinem Entrer in FATE etwas skeptisch war, zumal mir aus Spielersicht die Meta-Ebene in diesem Spiel – vorsichtig gesagt – dominant vorkam.

Als Spieler habe ich starke Züge eines Method Actor. Ich mag es, mich auf meine Rolle zu beschränken, aus ihr heraus zu handeln und unabhängig vom System zu agieren. Ich möchte mir keine Gedanken darüber machen, welche Boni ich hier und welche Mali ich dort erhalte. Ich möchte die Spielwelt durch die Augen meines Charakters betrachten, ganz mit ihm verschmelzen und auch so entscheiden, wie er es tun würde. Klarerweise verträgt sich ein Spiel mit starker Meta-Ebene nicht mit diesem Anspruch.

Jetzt hat Markus natürlich Recht, wenn er im Podcast zur Ehrenrettung von FATE argumentiert, dass auch andere Spiele eine Meta-Ebene haben, und das nicht zu knapp: Man denke nur an taktische Erwägungen im D&D-Kampf, an Magie in Ars Magica oder an die ständig präsente Sanity in Cthulhu. Das Seltsame ist, dass mich derartige Meta-Elemente offenbar weniger aus der Bahn werfen.

Warum ist das so? Nach vielem Nachdenken habe ich dazu eine – eigentlich recht simple – Theorie: Meta-Ebene ist nicht Meta-Ebene. Jedes Spiel hat eine Meta-Ebene (sonst wäre es kein Rollenspiel, sondern eine Psychose). Insofern kann das noch nicht das Problem sein. Gehen wir also ins Detail und unterscheiden wir aufs Geratewohl Meta-Ebenen, z.B.:

  • Meta-Ebene festgeschriebene Entwicklungen (auch „Meta-Plot“ genannt)
  • Meta-Ebene Spielerwissen – Heldenwissen (über andere SCs, Welt, Bildung…)
  • Meta-Ebene taktische Erwägungen (Attack of Opportunity, Flanken, Deckung…)
  • Meta-Ebene Individualpsychologie (Spotlight, Spielervorlieben…)
  • Meta-Ebene Gruppenstrategie (gemeinsames Ziel, Storyfortgang, Gruppenressourcen…)

Diese demonstrative Liste lässt den Schluss zu, dass es mehrere – sehr unterschiedliche – Meta-Ebenen gibt, auf die wir vermutlich (ich jedenfalls) unterschiedlich reagieren. Ich habe z.B. kein Problem, mein Spielerwissen zu unterdrücken. Ich kenne aber Spieler, die das einfach nicht schaffen. Umgekehrt kann ich wieder nicht aufhören, in dramatischen Dimensionen zu denken und die Story in Gedanken fortzuschreiben, auch wenn ich nicht SL bin.

Kurz und gut: Jede Meta-Ebene wirkt anders, und das auch noch bei jedem Spielertyp. Ich reagiere auf die letzte der oben genannten offenbar besonders sensibel. Und FATE schlägt genau dort hinein, mit seiner starken Verzahnung der Charaktere, mit seinem ausgeprägten Unterstützungssystem, mit seinem auf ein Gruppenziel ausgerichteten Ressourcensystem (Fate-Punkte) und den durchaus naheliegenden Erwägungen á la „Wenn ich jetzt diesen Fate-Punkt nehme, was könnte dann mit meinem Charakter passieren?!?“.

Ähnliches ist mir übrigens auch bei Fiasco widerfahren: Auch dort habe ich es nicht geschafft, in meinem Charakter zu bleiben, weil mir eine ähnlich gelagerte Meta-Ebene hineingefunkt hat. Jetzt ist aber Fiasco wenigstens eindeutig ein Story-Spiel, bei dem die Identifikation gar nicht auf Charakter-Ebene, sondern auf Story-Ebene erfolgen soll. Doch wie verhält es sich mit FATE? Ich erwartete ein Rollenspiel, das mich darin unterstützt, eine Rolle zu spielen. Das ist es aber nicht ganz. FATE ist mehr als das, es ist etwas Anderes. Ein Hybrid aus Story- und Rollenspiel vieleicht. Und ein verdammt gut gemachter noch dazu. Aber er funktioniert halt nicht bei jedem in derselben Weise.

Nicht missverstehen, ich habe eine äußerst hohe Meinung von FATE und sehe das oben beschriebene eher als „mein“ Problem und damit nur indirekt als solches von FATE. Es zeigt aber, dass man sich, wenn man ein Rollenspiel entwirft, sehr viele, durchaus wertvolle Gedanken über die Spielerpsychologie machen kann und die Prämisse „Meta ist Meta ist schlecht“ viel zu kurz greift.

Ich weiß, das war jetzt alles ziemlich meta. Ich verspreche, mein nächster Blogpost wird bodenständiger.